Geschichten

von Markus Dierolf

Ein Schuss ins Blaue

Die Geschichte handelt von zwei Männern, die bemerkenswert sind. Einer von beiden ist bereits verstorben, der andere ist zu dem Zeitpunkt, zu dem das geschrieben wird, noch am Leben. Der noch Lebende ist Michail Timofejewitsch Kalaschnikow.

Er kam im Jahre 1919 zur Welt, das war zwei Jahre nach der Revolution in Russland. Bedenkt man die Gefahr und die Unsicherheit der Zeiten, die sein Leben vor und während des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion bestimmten, dann war er nicht unbedingt ein Mann, der ein langes Leben zu erwarten hatte.  Er hat es aber trotz aller Widrigkeiten geschafft, und im Verlauf seines langen beruflichen Lebens wurde er Waffenkonstrukteur und entwickelte und perfektionierte das Sturmgewehr „Automat Kalaschnikow“ (AK). Heute zählen seine Konstruktionen zu den am meisten produzierten Handfeuer- und Unterstützungswaffen der Welt. Kalaschnikow ist zum erfolgreichsten Waffenkonstrukteur der Geschichte geworden.

Der Mann, der leider bereits tot ist, war Dr. phil. der Geschichte und lebte in den USA, wo seine Überlebenswahrscheinlichkeit in jeder Hinsicht bedeutend größer war als es die eines Sergeanten in der Panzertruppe der Roten Armee war. Aber das Schicksal wollte es anders, er starb 1993 im Alter von nur 52 Jahren an Krebs.

Zu „Dr. Eds“ vielen realisierten Vorhaben gehörte das 1986 herausgegebene Buch „The AK 47 Story“, das dem Leser seine Intelligenz, seinen Elan und seine Tiefgründigkeit bewies. Um sein Ziel zu erreichen, musste er zunächst viele Hindernisse und Stolpersteine überwinden. Das Hauptproblem war, dass sämtliches Quellenmaterial und die Informationsmöglichkeiten in russischer Sprache abgefasst waren – für ihn vollkommen fremd. Er ließ sich dadurch aber nicht entmutigen. Ein weiteres gewaltiges Problem war die vom halsstarrigen sowjetischen Revisionismus überzogene Geschichtsschreibung, die oft genug ohne Berücksichtigung der wahren Fakten geschrieben und umgeschrieben wurde. Mit großem Engagement nahm er sich mit Hilfe von vielen Freunden dieses Hauptproblems an. Die von Ed vorgenommenen Zusammenführungen von Fakten und die Schlussfolgerungen wurden in dieser neuen Ausgabe seines Buches beibehalten. Allerdings sollte der Leser sie unter dem Blickwinkel der Zeit und der Quellen, aus der sie stammen, einordnen. In seinem Buchvorwort führte Ed 1986 dazu aus:

Als einen „Schuss ins Blaue”, bezeichnete Dr. Ezell seinen Brief aufs Geratewohl, den er in seiner Funktion als Kurator für Militärgeschichte beim „Museum of American History” der ”Smithsonian Institution” im Jahre 1972 schrieb. Er war in die Sowjetunion adressiert und sollte Michail Timofejewitsch Kalaschnikow, den Entwickler des Sturmgewehres AK 47 „Kalaschnikow“, erreichen. Er bat in diesem Schreiben um Einzelheiten zur Person von Kalaschnikow, seine Vita und über seinen beruflichen Werdegang. Die lange Serie von freudigen Ereignissen, den dieser Brief dann auslöste, ist in diesem Buch beschrieben.

Aus der ins Englische übersetzten Autobiografie von Kalaschnikow, die im Jahre 1997 in Moskau erschien, können wir aus erster Hand erfahren, was geschah, als der Brief ordnungsgemäß an Kalaschnikow im hochgeheimen Arsenal City in Ischewsk zugestellt wurde:

„Zu Hause wurde mir gesagt: ‚Da ist ein Brief.’ Ich nahm den Briefumschlag in die Hand und erstarrte vor Überraschung! Meine Person war von einem dichten Nebel der Geheimhaltung umgeben, und jetzt bekomme ich einen Brief gerade so, als wenn ich jemand wäre, der als normaler Mitbürger in der Nachbarschaft wohnt und den man mehrmals täglich sieht. Eigentlich ging die Post zuerst nach Moskau zum Obersten Sowjet und von dort gelangte sie mit amtlichem Boten zu mir nach Ischewsk. Und plötzlich erhielt ich einen blauen mit roten Streifen am Rand besetzten Luftpostbrief: Er war aus den USA! Mein Status verlangte, dass ich den Empfang des Briefes dem KGB melden musste. Der Amtsleiter des regionalen KGB Büros, Nikolai Neverov, war ein alter Freund von mir. Ich suchte ihn auf und zeigte ihm den Brief. Er sah mich so ausdrucksvoll an, dass ich spontan meine Arme hochriss und rief ‚Oh nein, warum sollte ich in die USA geschrieben haben?’ ‚Gut’, sagte Neverov wieder in der üblichen Art. ‚Dann fragt er also nach einem Foto von dir und nach deiner Biographie. Keine Fragen nach Prototypen und neuartigen Gewehren bis jetzt – kommt das vielleicht später?’ Mein Freund zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. ‚Ich denke, er will wahrscheinlich ein Buch schreiben’, sagte Neverov mehr zu sich selbst. ‚Ein Schriftsteller, hmm?’ Sie sollten jetzt nicht denken, dass mein Freund ein typischer sturer Geheimdienst-
offizier war, so wie man sie oft in Filmen und Büchern dargestellt findet. Er war ganz im Gegenteil ein ungewöhnlicher Mann und es war ein wirkliches Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten. Er versuchte dem Bild, das er von sich selbst entworfen hat, zu entsprechen. Unser Leben war damals oftmals nicht nur schwierig sondern auch schwer, und jeder, der nur halbwegs clever war, hatte seine eigene Methode des Selbstschutzes entwickelt. Am Ende unseres Gespräches gab er mir freundschaftlich den Rat, die Meinung des Ersten Sekretärs der regionalen Parteileitung der KPdSU einzuholen und mich dort beraten zu lassen. Schließlich meinte der Erste Sekretär: ‚Hör zu, warum gehst du nicht zum KGB und lässt dir von dort sagen, was du tun sollst?’ Ich sagte ihm, dass ich von dort käme. Der Erste Sekretär seufzte und sagte: ‚Wie wäre es, wenn wir die Antwort etwas verzögern?’ Das ‚etwas verzögern’ dauerte dann so lange, bis nach fast einem Jahr die regionale Parteileitung einen Anruf vom Außenministerium erhielt. Ein Ministeriumsmitarbeiter erkundigte sich danach, ob der Erfinder Kalaschnikow einen Brief aus den USA von dem amerikanischen Waffenspezialisten und Historiker Edward Clinton Ezell erhalten habe, und wenn er den Brief erhalten habe, warum er ihn bis heute noch immer nicht beantwortet habe ….“

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Rechte (oben) und linke Seitenansicht (unten) des ersten Modells „Awtomat Kalaschnikowa Obraseza 1947g“ (AK 47), das aus Blechprägeteilen gefertigt ist. Diese Waffe stammt aus dem Fertigungsjahr 1951 und trägt die (in unsere Schrift übertragene) Seriennummer „Yu P 4911“. Man beachte das seitlich noch glatte Magazin und die offensichtlich im Waffenarsenal vorgenommene Reparatur am oberen Ende des aus massivem Birkenholz bestehenden Kolbens
(Abbildung unten). (MoD Pattern Room Collection)


In der Einführung in seinem Buch von 1986 „The AK 47 Story“ erzählt Dr. Ezell, was weiter geschah, als er das erhalten hatte, was Kalaschnikow später seine „eilig genehmigte Antwort“ nannte:

„Mehr als dreizehn Monate vergingen, und dann kam eines Tages mit der Post ein Brief mit einem signierten Foto von Kalaschnikow. Seine eigene Bedeutung im Programm zur sowjetischen Militärtechnologie verkleinerte er und verwies auf einige sehr nützliche biographische Veröffentlichungen: Einen Artikel über ihn in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie und eine buchumfassende Biographie mit dem Titel ‚Vtoroe rozhdnie’ (zweite Geburt) von V. Zhukov, erschienen 1963 im Militärverlag des sowjetischen Verteidigungsministeriums als Teil der Serie ‚Sowjetische Helden’. Der Eintrag in der ‚Großen sowjetischen Enzyklopädie’ war kurz, aber sehr wichtig, denn er nannte als sehr wichtige weitere Quelle die Abhandlung von D. N. Bolotin mit dem Titel ‚Sovetskoe strelkovoe oruzhie za 50 let’ (‚50 Jahre sowjetische Handfeuerwaffen’). Es handelt sich dabei um das, was man eine Dissertationsschrift nennen könnte. Darin beschrieben waren nicht nur die in den Archiven mit Dokumenten belegten Entwicklungen von Handfeuerwaffen seit dem Jahre 1917, sondern listete auch die Handwaffen auf, die im militärgeschichtlichen Museum der Artillerie, Pioniertruppe und Nachrichtentruppe (‚Voennoistoricheskogo muzeya artillerii, inzhenernikh voisk i voisk sbyazi’) in Leningrad (heute wieder Sankt Petersburg) vorhanden waren. Eine aktualisierte Version, ohne den Waffenkatalog, wurde unter dem Titel „Sovetskoe strelkovoe oruzhie“ (sowjetische Handfeuerwaffen) im Jahre 1983 im Militärverlag des Verteidigungsministeriums veröffentlicht. Die Abhandlungen von Beskrovniy und Bolotin ergeben zusammengenommen die Basis dieses Buches.


Bis vor kurzem gab es noch relativ wenig Veröffentlichungen in englischer Sprache über den Menschen Kalaschnikow. Die vorhandenen Einzelheiten zu einem Ganzen zusammenzufügen, war eine detektivische Puzzlearbeit ersten Ranges. Diese Vorgehensweise war durch die sowjetischen Sicherheitsinteressen bedingt notwendig. Aber jeder, der einen solchen enormen Einfluss auf die Konstruktion und konstruktive Fortführung von Infanteriewaffen hat, wie es bei Kalaschnikow der Fall ist, muss mit einem solchen Interesse an seiner Person rechnen. Daher waren wir mit unserem Interesse an dem Mann nicht allein. Aber Kalaschnikow war auch für seine osteuropäischen Genossen schwer zu fassen. Auch sie haben ein starkes Interesse an ihm und seiner Arbeit entwickelt. Sehr gut ist das erkennbar an dem Auszug aus einer ostdeutschen Militärveröffentlichung aus dem Jahre 1968. Der Autor, der russische Oberst M. Nowikow, schreibt darin über Kalaschnikow:

„Einfach war es nicht, seine Adresse ausfindig zu machen. Nach unzähligen Telefonaten hatte ich sie dann aber. Ein Treffen zwischen uns war dann schnell vereinbart. Schließlich saß ich ihm, einem Mann im besten Alter, gegenüber. Er war von mittlerer Statur, sein volles Haar bildete über der Stirn eine schelmische Welle. Der Name des Mannes ist bei den Armeen des Warschauer Paktes tagtäglich viel benutzt und in aller Munde: Michail Timofejewitsch Kalaschnikow. Vater der MPi, die unter der Bezeichnung ‚Awtomat Kalaschnikowa’ für den Mot-Schützen ebenso ein feststehender Begriff ist wie für den Grenzsoldaten, ihn kennt der Posten an der Hafenpier genauso wie der Flugzeugmechaniker.“

Meine Bekanntschaft mit Dr. Edward Clinton Ezell, dem Verfasser des Buches „The Ak-47 Story“, begann fast 20 Jahre nach seinem ersten Brief an mich. Es war damals eine echte Sensation in der „Sperrgebietsstadt“ Ischewsk einen Brief aus dem Ausland – und dann auch noch aus den USA – zu erhalten. Sie können sich meine Besorgnis vorstellen, als ich diesen Brief von „offizieller Seite“ erhielt.

Ein paar Jahre nach meiner notwendigerweise leider verspäteten Antwort erhielt ich ein großes Buch mit dem Titel „Small Arms of the World. A Basic Guide to Small Arms“. Herausgeber war Dr. Ezell, und es enthielt wertvollste Informationen. Außerdem sandte er mir auch noch Zeitschriften und einzelne Artikel zu.

Dann, es war im August 1988, erhielt ich das von Dr. Ezell geschriebene und von ihm für mich signierte Buch „The AK-47 Story“. Ich habe es sehr bedauert, dass ich die englische Sprache nicht beherrschte! Das Buch habe ich unverzüglich übersetzen lassen und hatte dann auch eine russischsprachige Version. Nachdem ich mich dann mit dem Buchinhalt vertraut gemacht hatte, habe ich den größten Respekt und Dankbarkeit empfunden, denn nicht einmal in unserer eigenen nationalen Fachliteratur über Waffen ist etwas Vergleichbares zu finden. Und das Buch handelt ausschließlich von russischen Waffen – angefangen vom letzten Jahrhundert bis zu den neuesten Modellen. Ich stufe das Werk als eine regelrechte Enzyklopädie über russische Handfeuerwaffen ein.

Dass eine außenstehende Person ohne Zugang zu unseren Archiven eine zeitgeschichtliche Abfolge so exakt bis hin zur Annahme meiner Modellentwicklung AK-47 nachverfolgen und eine Gegenüberstellung unserer Waffenkonstrukteure vornehmen konnte, hat mich schon sehr beeindruckt. Ich bin überzeugt, dass, wenn das Werk in Russland verfügbar gewesen wäre, es einen herausragenden Rang wie kein anderes in unserer Militärliteratur erhalten hätte. In vielerlei Hinsicht geht es deutlich über das hinaus, was unsere Literatur an themenmäßiger Vollständigkeit, Genauigkeit der Informationen und der Daten, Lesbarkeit und Verständlichkeit und der sorgsamen Behandlung und Darstellung der Technik beinhaltet. Ich möchte klar sagen, dass mir kaum je ein Mann mit einer solchen speziellen und großen Sachkenntnis über Handfeuerwaffen begegnet ist, wie Dr. Ezell.
Mit den Jahren wurde Ed Ezell ein enger Freund von mir. 1992 habe ich dann von einem unserer gemeinsamen Freunde erfahren und war darüber sehr traurig, dass Ed ernsthaft krank sei. Aber trotzdem machte er Pläne für weitere große Vorhaben und arbeitete noch intensiver, als er es bisher schon getan hatte. Seine Frau Virginia schickte mir auch weiterhin seine Artikel, Grüße von ihm und Briefe von ihm zu. Plötzlich, im Dezember 1993, erreichte mich die traurige Nachricht, dass Ed von uns gegangen ist. Die Krankheit hatte ihn schließlich besiegt und von uns genommen. Dies geschah am Vorabend meines vierten Besuches in den USA. Ich fühlte, dass ich dort ohne ihn allein sein würde – ich war zum Waisenkind geworden …

Aber das Leben geht natürlich weiter und nimmt keine Rücksicht auf das Kommen und Gehen auf dieser Welt. Was bleibt von uns übrig? Ich bin überzeugt davon, dass Edward Clinton Ezell einen Teil von sich durch seine Bücher, seine Dokumentarfilme, seine Artikel und seine Briefe zurückgelassen hat. Ein Teil des Vermächtnisses dieser großartigen Person ist sein Buch über die AK-47-Story.

Ich wünsche mir, dass diese zweite Auflage von Dr. Ezells Buch noch mehr Leser findet und dass auf diese Weise die Zahl seiner Verehrer weiter zunimmt!


Michail Kalaschnikow
Konstrukteur und Doktor der technischen Wissenschaften Ischewsk, Russland


Grußwort von Michail Kalaschnikow 2010
Ich lernte den Autoren Doktor Ezell als hervorragenden Experten der Waffengeschichte kennen. Seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Handfeuerwaffen, darunter auch meiner Entwicklungen, zeichnen sich durch außergewöhnlich Kompetenz aus. Ich war stets tief von seinem enzyklopädischen Wissen beeindruckt. Besonders erstaunlich für mich war die Tatsache, wie er als Amerikaner so viele Informationen auch über russische Waffen sammeln konnte. Ich bin stolz, ihn gekannt zu haben.

Michail Kalaschnikow


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Das Buch "Kalaschnikow - Das Genie und sein Lebenswerk" ist in der dwj Verlags-GmbH erschienen und bietet durch die persönliche Beziehung zwischen Ezell und Kalaschnikow mehr Einblicke in das Wirken des "Genies" als andere Werke bisher. Es ist im DWJ-Onlineshop portofrei (im Inland) erhätlich.

Autor: Edward Clinton Ezell
Dt. Übersetzung: Bernd Rolff
gebundene Ausgabe
381 Seiten
rund 360 Abbildungen
Format: 19,5 x 27 cm

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